Ein Kaleidoskop europäischer Geschichte
Der Ort Kreisau/Krzyżowa ist ein Kaleidoskop deutsch-polnischer und europäischer Geschichte. Denn dieses kleine niederschlesische Dorf wurde im 20. Jahrhundert zur Bühne politischer Umbrüche und europäischer Hoffnung.
1942 und 1943 tagte hier der Kreisauer Kreis, 1989 wurde in Kreisau/Krzyżowa die deutsch-polnische Versöhnungsmesse gefeiert und formierte sich an diesem Ort ein zivilgesellschaftliches Projekt mit dem Ziel, eine internationale Begegnungs- und Gedenkstätte zu errichten.
Kreisauer Kreis
Der Kreisauer Kreis war eine der zentralen Gruppen des zivilen Widerstands im Nationalsozialismus. Er formierte sich um Helmuth James von Moltke, einen Juristen mit tiefem Glauben an demokratische Prinzipien und Freiheiten, und Peter Graf Yorck von Wartenburg. In diesem Freundeskreis, der postum als Kreisauer Kreis bezeichnet wurde, versammelten sich Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, politischer Überzeugungen und Konfessionen. Gemeinsam entwarfen sie Pläne für die Zukunft Deutschlands in Europa nach der Überwindung des Nationalsozialismus.
„Das Kreisauer Programm […] stellt einen umfassenden Zukunftsentwurf dar, dessen Kühnheit und innere Stringenz von anderen politischen Reformkonzepten des deutschen Widerstandes gegen Hitler nicht übertroffen worden ist.“
Hans Mommsen: Der Kreisauer Kreis und die künftige Neuordnung Europas und Deutschlands, 1994.
Der Kreisauer Kreis bestand aus über 20 aktiven Mitgliedern und zahlreichen Sympathisanten. Er vereinte Sozialdemokraten und Konservative, Gewerkschafter und Landbesitzer sowie Vertreter der beiden großen Konfessionen. Die Gruppe verband die gemeinsame Ablehnung des Nationalsozialismus und der Wille, soziale, politische und konfessionelle Grenzen zu überwinden und eine gemeinsame Neuordnung für ein demokratisches Deutschland in einem vereinten Europa zu planen.
Erfahren Sie mehr über die einzelnen Mitglieder des Kreisauer Kreises.
Die Mitglieder des Kreisauer Kreises trafen sich meist in kleineren Gruppen in privaten Wohnungen oder Büros. Da nur zwei oder drei Personen an solchen Treffen teilnahmen, wussten die Mitglieder oftmals nicht voneinander. Ausschließlich Moltke und Yorck hatten Kontakt zu allen Beteiligten und koordinierten die Arbeit an den Konzepten.
Die drei großen Tagungen des Kreisauer Kreises fanden 1942 und 1943 auf dem Gut der Familie von Moltke statt. Bis zu 20 Personen nahmen an diesen als private Feiern getarnten Treffen im Berghaus, der damaligen Wohnstätte von Freya und Helmuth von Moltke, teil. Die erarbeiteten Entwürfe zur Neugestaltung Deutschlands konnten in einem größeren Kreis diskutiert und verabschiedet werden. Somit wurde das Kreisauer Berghaus zu einem Zentrum des zivilen Widerstands gegen das Naziregime.
Ziel der Kreisauer war es, Grundzüge einer geistigen, politischen und sozialen Neuordnung nach dem Zerfall des NS-Regimes zu erarbeiten. Die Mitglieder diskutierten das Verhältnis von Staat und Kirche, Fragen der Bildung, Pläne zum Aufbau eines künftigen Staates, des Wirtschaftssystems sowie der Außenpolitik. Besonders wichtig war ihnen die Einbettung Deutschlands in eine europäische Nachkriegsordnung. Gegenstand der Diskussion war ebenfalls die Bestrafung der Kriegsverbrecher.
Die Mitglieder des Kreisauer Kreises sahen sehr früh „nicht nur die Verwüstungen der Städte, sondern auch die entsetzlichen Verwüstungen in den Köpfen und Herzen der Menschen“ (Helmuth James von Moltke). Sie waren der Überzeugung, dass zu einer funktionierenden Demokratie die Teilhabe und das Verantwortungsbewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger gehöre. Sie unterstützten einen dezentralen Staatsaufbau mit basisdemokratischen Initiativen. Sie glaubten an ein geeintes Europa ohne hegemoniale Versuchungen und strebten eine Wirtschafts- und Sozialpolitik an, die persönliche Freiheit und soziale Sicherheit miteinander verband.
„Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden. Das ist eine Frage der Religion, der Erziehungen, der Bindungen an Arbeit und Familie, des richtigen Verhältnisses zwischen Verantwortung und Rechten.“
Helmuth James von Moltke, am 18.4.1942 in einem Brief an Lionel Curtis
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, wurden zahlreiche Mitglieder des Kreisauer Kreises verhaftet. Einige Monate zuvor war Helmuth James von Moltke von der Gestapo festgenommen worden, nachdem er versucht hatte, einen Bekannten, Otto Kiep, vor dessen Verhaftung zu warnen. Acht Kreisauer wurden bis Januar 1945 im Gefängnis Plötzensee hingerichtet. Zu ihnen gehörten Helmuth James von Moltke, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Adam von Trott zu Solz, Hans Bernd von Haeften, Adolf Reichwein, Julius Leber, Theodor Haubach und Alfred Delp.
Helmuth James von Moltke konnte eine Beteiligung am Attentat nicht nachgewiesen werden. Er wurde allein für das Denken über die Zukunft nach einem Sturz Hitlers zum Tode verurteilt. „Wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben“, schrieb Moltke seiner Frau Freya in einem seiner letzten Briefe vom 10. Januar 1945 aus dem Gefängnis.
Deutsch-Polnische Versöhnungsmesse
Das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen war nach 1945 von Spannungen und Konflikten geprägt. Die Erfahrungen von Krieg, Besatzungsregime und Vertreibungen belasteten das deutsch-polnische Verhältnis. Die fehlende Anerkennung der Oder-Neiße-Linie erschwerte eine Annäherung.
Am 15. Oktober 1965 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands die sogenannte Ostdenkschrift der EKD. In dieser benannten die Gläubigen die deutsche Schuld an dem Unglück der Vertriebenen sowie an dem Leiden Polens im Zweiten Weltkrieg. Die Schrift mahnte an, zugunsten von Verständigung und Versöhnung deutsche Ansprüche auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze zu hinterfragen.
Es folgte ein Brief der polnischen Bischöfe am 18. November 1965 an ihre Amtsbrüder in der DDR und der BRD, der den berühmt gewordenen Satz enthielt: „[Wir] gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“. In ihrem Brief schrieben die Bischöfe über die Zugehörigkeit Polens zum lateinischen Christentum sowie die traumatischen Erfahrungen der deutschen Besatzungszeit in Polen und formulierten einen impliziten Appell, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Die deutschen Bischöfe antworteten am 5. Dezember desselben Jahres mit einem Eingeständnis des Unrechts, das durch Deutsche während des Krieges an Polen verübt worden war. Dieser Briefwechsel bildete den ersten Meilenstein auf dem Weg zur deutsch-polnischen Versöhnung.
Im Juni 1989 hatte sich die polnische Gesellschaft die ersten teilweise freien Wahlen erkämpft und den Oppositionspolitiker Tadeusz Mazowiecki zum Premierminister gewählt. In Berlin war am 9. November desselben Jahres die Mauer gefallen. Inmitten dieser Umbruchzeit stand ein offizieller Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Polen an, mit dem Ziel, die deutsch-polnischen Beziehungen zu verbessern. Eine gemeinsam gefeierte Heilige Messe sollte ein bedeutender Programmpunkt dieser Reise sein.
Am 12. November 1989 fand in Krzyżowa die Heilige Messe statt, an der der erste nicht-kommunistische polnische Premierminister Tadeusz Mazowiecki und der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, teilnahmen. Fast 7.000 Menschen versammelten sich, um gemeinsam mit den beiden Regierungschefs die Heilige Messe zu feiern. Austragungsort sollte Krzyżowa sein, denn hier hatte sich der Kreisauer Kreis getroffen, der wegen seiner europäischen Ausrichtung für die polnische Seite ein Symbol des gewünschten, neuen Deutschlands war. Zudem arbeiteten zivilgesellschaftliche Gruppen aus Polen und beiden deutschen Staaten seit Jahren an einer deutsch-polnischen Annäherung und verfolgten die Idee, aus Kreisau/Krzyżowa einen Ort der Begegnung zu machen.
Der Bischof von Oppeln, Alfons Nossol, der die Heilige Messe hielt, rief ausdrücklich zur Versöhnung und Vergebung auf. Als sich die beiden Regierungschefs zum Friedensgruß die Hand reichten und umarmten, war dies ein starkes Symbol der Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen und ein Zeichen des Neuanfangs.
Diese von beiden Regierungschefs gefeierte Heilige Messe war angesichts der angespannten politischen Lage zwischen Polen und der Bundesrepublik von bahnbrechender Bedeutung. Das Ereignis legte das Fundament für den Ausbau der bilateralen Beziehungen und markierte den Anfang eines neuen Kapitels in der Geschichte von Kreisau/Krzyżowa.
Das Neue Kreisau
„Denn in der Tat ich habe noch Zukunftspläne mit Kreisau. Ich denke immer noch, eines Tages wird aus Kreisau ein Haus für deutsch-polnische Verständigung.“
Freya von Moltke, 1967 in einem Brief an den Historiker Ger van Roon
Knapp 20 Jahre später wurde aus diesen Zukunftsplänen Gegenwart und im Sommer 1990 die polnische Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung gegründet.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde aus Kreisau das polnische Krzyżowa und aus dem Gutshof ein Staatsbetrieb. Die Gebäude dienten der landwirtschaftlichen Nutzung und verfielen im Laufe der Jahre zunehmend. Doch die Idee für Kreisau als ein Ort, an dem ein deutsch-polnischer und interkultureller Dialog möglich ist, blieb erhalten.
Viele Menschen sahen in den Männern und Frauen des Kreisauer Kreises Vorbilder für einen toleranten und offenen Umgang miteinander und unterstützten die Ideen einer politischen Konzeption Europas, die auf einer gemeinschaftlichen Gestaltung durch Bürgerinnen und Bürger basierte. Gegen Ende der 1980er Jahre kamen diese Menschen – aus Polen, den Niederlanden, den beiden deutschen Staaten sowie den USA – auf Tagungen und bei privaten Anlässen zunehmend miteinander in Kontakt. Ein Netzwerk aus Unterstützerinnen und Unterstützern Kreisaus/Krzyżowas entstand.
Ende der 1980er Jahre formierte sich innerhalb kürzester Zeit eine zivilgesellschaftliche und über Grenzen kooperierende Gemeinschaft, die den Weg zu einem Neuen Kreisau ebnete. Auf polnischer Seite war der Klub der Katholischen Intelligenz in Breslau der Katalysator für das Engagement für Krzyżowa/Kreisau, in West- und Ost-Deutschland gab es verschiedene Initiativen. Eine wichtige Rolle übernahm hier die Kreisau-Initiative e. V. – ein Verein, der im Sommer 1989 noch vor dem Fall der Mauer von Bürgerinnen und Bürgern aus Ost und Westberlin gegründet wurde. Dieser setzte sich zum Ziel, den Aufbau einer europäischen Begegnungsstätte zu unterstützen und in der Öffentlichkeit bekannter zu machen.
Mit einem Schreiben am 4. Juni 1989 an das Außenministerium der Volksrepublik Polen sowie an das Bundeskanzleramt, legten die neuen Kreisauerinnen und Kreisauer ihr Vorhaben vor, in Kreisau/Krzyżowa eine internationale Begegnungs- und Gedenkstätte zu errichten. Mit der Versöhnungsmesse erhielt die Idee eines Neuen Kreisaus die benötigte politische Aufmerksamkeit.
Im Sommer 1990 wurde die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung als polnische Nichtregierungsorganisation gegründet. Kreisau/Krzyżowa sollte nun ein Ort internationaler Jugendbegegnung, ein Ort deutsch-polnischer Verständigung, ein Ort des Gedenkens an den Widerstand gegen jede Form des Totalitarismus, ein ökologisches Landgut sowie ein Bildungs- und Schulungszentrum sein.
2004 wurde die Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau als gemeinnützige Gemeinschaftsstiftung mit rund 140 Stifterinnen und Stiftern aus Deutschland, Polen, den Niederlanden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen. Die Stiftung verschreibt sich dem Ziel, die Arbeit der internationalen Jugendbegegnungs- und Gedenkstätte in Kreisau/Krzyżowa zu fördern und langfristig zu sichern.
Das Erbe Kreisaus tragen heute die drei Organisationen der Kreisauer Familie in die Zukunft: die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung in Krzyżowa und die Kreisau-Initiative e. V. sowie die Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau in Berlin.