Suche

Nachruf auf Annemarie Cordes

„War es Wagemut? Oder war es etwas viel Einfacheres: Manchmal muss man einfach anfangen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen wird.“ Diese Sätze beschließen einen Bericht von Annemarie Cordes über den Gründungsabend der Kreisau-Initiative e. V. am 10. November 1989, der vom Geist der Veränderung und dem Überschwang der Gefühle nach dem Mauerfall und der ersten Begegnung zwischen den West-Berliner und den Ost-Berliner Kreisau-Interessierten geprägt war. Annemarie Cordes hat diesen Geist der Zeit begeistert aufgenommen. Sie hat den Anfängen vertraut und sich gemeinsam mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern auf den Weg gemacht, die Vision eines europäischen Bildungs- und Begegnungsortes in Krzyżowa/Kreisau Wirklichkeit werden zu lassen. Entstanden ist daraus ein fast 35-jähriges Engagement, ein Lebensprojekt.

Annemarie Cordes war Gründungsmitglied und über 20 Jahre lang Vorsitzende der Kreisau-Initiative e. V. Sie gehörte zu den Mitgründerinnen und -gründern der polnischen Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung im Jahr 1990 und engagierte sich über Jahrzehnte in deren internationalen Gremien. Mit der Initiative zum Aufbau eines ersten Berliner „Verbindungsbüros zur Stiftung Kreisau“ 2001 begann die Entwicklung der Kreisau-Initiative e. V. zu einem europaweit anerkannten Träger internationaler Jugend- und Begegnungsprojekte. Im Jahr 2004 war Annemarie Cordes maßgeblich an der Gründung der Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau beteiligt und begleitete deren Entwicklung bis zuletzt. Mit ihrem Mut Dinge anzustoßen, ihrem unermüdlichen Einsatz und ihrer unerschrockenen Beharrlichkeit hat sie das Kreisauer Netzwerk geprägt. 2016 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Geschichte auf eine Weise zu erzählen, die neben den historischen Fakten individuelle Erfahrungen hörbar werden lässt, war Annemarie Cordes ein wichtiges Anliegen. Es ist daher kein Zufall, dass die Neugier auf die damals noch unbekannten Perspektiven der Frauen im Kreisauer Kreis zum Ausgangspunkt ihres Engagements wurde. Mit Begeisterung adaptierte sie in den 1980er Jahren das Konzept der Oral History für die Bildungsarbeit in der Berliner Jugendbildungsstätte „Haus Kreisau“. Ein Kamingespräch mit Marion Gräfin Yorck von Wartenburg, Clarita von Trott zu Solz, Rosemarie Reichwein und Margarete von Trotha im Jahr 1985 markiert rückblickend einen Schlüsselmoment, aus dem 1986 auch der erste Kontakt zu Freya von Moltke entstand. Es folgten weitere Begegnungen im zunächst noch unsichtbaren Netzwerk, aus dem heraus wenige Jahre später die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung in Polen hervorgehen sollte.

In Diskussionen um die programmatische Ausrichtung der Bildungs- und Begegnungsarbeit in Krzyżowa/Kreisau hatte Annemarie Cordes eine unverwechselbare Stimme und einen tief in ihren Überzeugungen verwurzelten Standpunkt: Kreisau war für sie zu allererst ein basisdemokratisches Projekt, das aus dem gemeinschaftlichen Engagement von Menschen aus beiden Teilen Deutschlands, aus Polen, den Niederlanden und den USA entstanden war. Diese Identität als Nichtregierungsorganisationen und die Verwurzelung im historischen Erbe des Kreisauer Kreises rief sie uns in Erinnerung, wenn die Dynamik des „Tagesgeschäfts“ drohte den inneren Kompass zu verschieben. Gleichzeitig war sie neugierig darauf, wie die junge Generation den Begriff der „europäischen Verständigung“ mit Leben füllte. Die vielfältigen Entwicklungen unserer Bildungsarbeit zu historisch-politischen Themen, den Menschenrechten, der sozial-ökologischen Transformation oder der Inklusion hat sie intensiv verfolgt.

Annemarie Cordes hat die Kraft für ihr Engagement aus persönlichen Begegnungen und Beziehungen geschöpft. Kreisau war für sie immer auch das gemeinsame Tun mit engen Freundinnen und Freunden, mit Menschen, die sie persönlich schätzte. Sie hat Brücken zwischen den Generationen gebaut, Wissen, Erfahrungen, Kontakte weitergegeben. An den persönlichen Begegnungen bei Tagungen, Mitgliederversammlungen, Pfingsttreffen oder ganz einfach an ihrem Küchentisch hatte sie große Freude. Auf diese Weise hat sie nicht zuletzt vertrauensvoll Verantwortung an die nächste Generation weitergegeben und andere in ihrem Engagement bestärkt.

Am 22. Mai 2023 ist Annemarie Cordes in Berlin verstorben. Wir verlieren eine Freundin und Wegbegleiterin, Mentorin und kritische Beraterin, Zeitzeugin und kluge Beobachterin. Wir fühlen uns ihr über den Tod hinaus verbunden und gedenken ihrer mit Dankbarkeit.

Der Nachruf wurde von den Gremienmitgliedern, Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kreisau-Initiative e. V., der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung sowie der Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau verfasst.

Die Beisetzung findet am 8. Juni um 10 Uhr in der Kapelle auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof, Südstern 8-10 in 10961 Berlin statt.